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Leseprobe aus „Im Spiegel des Affen”

Die Dänenfrau von Karlskrona

„Sieh mal“, sagte Hartwig zu Juri. Er schlug einen großen Bildband der Holzschnitzkunst vor ihm auf. Während er die Seiten durchblätterte, entstieg dem Buch ein aromatischer Farbduft und verbreitete sich im Raum.

„Ich wollte es dir schon vor einigen Wochen zeigen! Es ist so unvorstellbar schön! Hier, auf diesem Handelsschiff, habe ich eine Frau wiederentdeckt, die ich kenne. Nichts ahnend sah ich mir das Buch an und fand auf einmal dies!“ Die Abbildung zeigte eine Galionsfigur, deren barocke Gestalt förmlich aus dem Vordersteven des Schiffes herauszuwachsen schien. Der kommentierende Text berichtet davon, dass dies das Werk eines schwedischen Schnitzers war, der vermutlich, wie auch der bekannte Meister Maarten Redtmer, im Auftrag für die Stockholmer Werft gearbeitet hatte. Über die Schnitzer selbst und deren Arbeitsweise war fast nichts überliefert. Hartwig glaubte sich allerdings zu erinnern:

„Als ich diese Figur sah, da wusste ich, dass ich es war, der sie im 17. Jahrhundert geschnitzt hatte! Als „Johan Törnström", so hieß ich damals, führte ich mit meiner Frau und unseren sechs Kindern in Karlskrona vorerst ein erbärmliches Leben. Trotz meiner Hände Arbeit konnte ich kaum für das Notwendige sorgen. Eines Tages kamen Fremde in die Stadt und ich verliebte mich in eine Frau, die an der Seite eines wohlhabenden Dänen über den Marktplatz ging. Sie war wunderschön und ihre sinnliche Ausstrahlung wurde noch einmal mehr verstärkt, als auf ihre rotblonden Haare die Sonne fiel. Ich sah sie von einer Lichtaura umrahmt. Nur für einen flüchtigen Moment begegneten sich unsere Augen und mir war, als würde sie im Aufblitzen ihrer Seele durch mich hindurchblicken. Ich musste meiner Erinnerung an diese Frau Fleisch verleihen, damit sie mir erhalten bliebe! Ich war besessen von dem Gedanken an sie und begann noch am selben Tag meine Imagination als Skulptur zu verwirklichen. Mir war, als müsse ich sterben, wenn ihr Bildnis mich verließe. Doch nie war ich zufrieden mit meinem Werk! Ich fertigte einige Exemplare an, die ich meist verwarf. Sie waren für mich nicht mehr als Entwürfe. Dann erweckte eine meiner Nachbildungen, die gelungenste, eines Tages das Interesse eines Käufers aus Stockholm. Weil ich meine Figur ja verkaufen musste, um mich und meine Familie ernähren zu können, schuf ich sie immer wieder neu. Die Fremde wurde mit jedem Mal schöner und schöner! Seither war ich begnadet. Drei Jahre später wurde ich nach Stockholm berufen, um als Galionsschnitzer für die dortige Werft zu arbeiten. Für meine Familie und mich bedeutete das ein Leben, in dem wir es uns gut gehen lassen konnten. Die ersehnte Frau habe ich allerdings nie wiedergesehen! Ich war dieser Galionsschnitzer.“, sagte Hartwig leise. „Ich hatte bislang nie begreifen können, was mich in das Metier als Restaurator getrieben hat, bis zu diesem Moment, als ich das Bildnis dieser Frau wiederentdeckt habe!"

„Du bist zweifelsohne ein begnadeter Meister in diesem Geschäft, Hartwig! Wie geht es dir jetzt damit, diese Frau wiederentdeckt zu haben? Oder hat vielleicht Sarah mit ihr etwas zu tun? “

„Diese Frau ist nicht Sarah, Juri! Aber sie hat etwas von ihr. Sie führt mein Schiff; sie inspiriert mich. Und sie wird wissen, warum sie mich will! Während ich in sie Linien treibe, führe ich sie so zu ihrer Formvollendung. Dann erst wird sie befähigt sein, ihre Schicksalsaufgaben zu übernehmen, die sie jetzt noch nicht erkennen kann!“

„Aha, daher kommt der Slogan: Wir möbeln sie auf!", scherzte Juri.

„Darüber habe ich so noch nie nachgedacht, Juri! Du hast Recht, möglicherweise kommt ein solcher Satz aus diesen Vorerfahrungen! Es ist mir, als hätte ich schon seit vielen Inkarnationen als bildender Künstler gearbeitet!“ Hartwig gab einen Stoßseufzer von sich. Er liebte die Gespräche mit seinem Freund.

„Wünscht du dir denn, dieser ehemaligen Dänenfrau zu begegnen? “

„Klar doch! Das wäre phantastisch! Vielleicht fühle ich mich aus diesem tiefen Grund manchmal so ruhelos! Es ist ein genialer Gedanke, sie wiederfinden zu können! Jedenfalls muss mich eine Frau inspirieren! Wozu sollte sonst der ganze Aufwand gut sein? Unabhängig davon: Ich kenne diesen Johan Törnström als mein Selbst, Juri! Es hat mich zutiefst betroffen gemacht, zu entdecken, der Schöpfer dieser Galionsfigut gewesen zu sein! Verstehst du das?“

„Hundert Prozent!“, sagte Juri. Er bewunderte seinen Freund. „Nun stellt sich nur noch die Frage, ob ich weiterhin versuchen will, der Materie mein Lebensgefühl einzuhauchen, wie ich es seit vielen Leben schon getan habe oder ob ich endlich einmal eine andere Position einnehme.“

„Was wäre denn eine andere Position? “

„Nun, heute weiß ich einfach, dass ich anderen Menschen ein Geburtshelfer sein kann. Ich will ihnen zu den Dimensionen verhelfen, die ihnen selbst noch verborgen sind. Ich will ihnen zeigen, wie sie ihre Bestimmung finden!"

„Ich gehe davon aus, dass du fähig bist, ein geistiger Lehrer zu sein!“

Er neigte seine Stirn zu Hartwigs Stirn, bis sie sich berührten. Eine Weile sahen sie sich unverwandt in die Augen. Auf einmal ertönte ein erster Ton zwischen ihnen, der anschwoll und dann überging in ein rhythmisches
mhm-, töt-tö; mhm tö-,
mhm-, töt-tö; mhm tö-,
mhm-, töt-tö, mhm tö- ...

Immer noch Stirn an Stirn gepresst, erhoben sie sich mit weit auseinandergebreiteten Armen langsam von ihren Plätzen und ließen ihre Körper eintreten in den Rhythmus ihres gemeinsamen Sprechgesangs. Dann lösten sie sich voneinander. Nahtlos übertrug Hartwig den Impuls auf seine Tumba und Congas zum Tanz von Juri und weitete ihn zu einem grandiosen Solo aus. Dabei schaute er seinem Freund zu und wusste intuitiv, welches Tempo und welche Variation er ihm bieten müsse, damit er weitertanzen könne. Irgendwann, eine Viertelstunde sind Sekunden in der Lust der Muse, fielen sie sich schweißüberströmt auf der Couch in die Arme und waren selig daran, Freunde zu sein.

„Das war gut!“
„Das war gut!“ wiederholte Juri. „Jetzt muss ich aber gleich los zu meiner Freundin.“
„Wie beneide ich dich! Du hast deine so nah!“
„Die räumliche Entfernung zwischen dir und Sarah zeigt dir die Entfernung eurer Seelen zueinander an!“

Juri ging, während Hartwig noch eine Weile dem letzten Satz seines Freundes nachsann. Er fühlte sich auf einmal leer, verlassen und zukunftsarm. Die Dynamik der Begegnung war mit dem Fortgang Juris im Nu verschwunden. Er schlug sein Telefonregister auf und blätterte zunächst wahllos darin herum, auf der Suche danach, welche der Namen ihn aus diesem Gemütsloch heraushelfen könne. Er machte für diesen Abend sein Date mit der Frau des Malermeisters Meindorf aus Techelsweide. Auf diese verheiratete Blondine war er immer schon scharf.

Das war wohl der verborgene Grund, warum sie ihm von Anfang an so gefallen hatte: Sie hatte etwas von der Dänenfrau: nicht barock, eher klassizistisch! Anieta Meindorf könnte seinem Stimmungstief etwas aufhelfen. Außerdem war es ihm wichtig, immer eine Liste von Möglichkeiten für diese oder jene Lebenssituation parat zu haben; speziell: weibliche Möglichkeiten! Dafür musste man natürlich die Kontakte lebendig halten! Heute aber hatte Hartwig nicht mehr im Sinn, als sich nur ablenken zu können.