Diotima Verlag - Banner

Leseprobe aus „Zeitenhall - Blüten einer Liebe in 282 Bildern”

Vorwort

Der glückliche Leser

Die Papierarbeiten »Zeitenhall«, Beschäftigungen mit Prousts »Eine Liebe von Swann«, sind zwischen 2010 und 2013 als tägliche Fingerübung und Einstimmung in den Atelieralltag entstanden. Betrachte ich die Arbeiten heute, zehn Jahre später, sind Aufbau, Kolorierung und Strich vertraut, Verständnis, Motivation, Inhalt geben Rätsel auf. Nach kurzer Zeit setzt ein Besinnen ein, die Auseinandersetzung mit Proust wird wach gerufen, Interpretationsansätze schieben sich in den Vordergrund, Andenken einer verflossenen Dekade treten auf.

Das Studieren der Bilder wird zu einer Erinnerungsarbeit.

In Bildungseinrichtungen lernen wir das Erkennen und Entziffern von Buchstaben, das Auffinden von bedeutungsunterscheidenden sprachlichen Einheiten; Inhalte werden durchgekaut, um von den Schülern im gewünschten pädagogischen Sinn angewandt zu werden. Nicht aber eingeübt, kaum lehrbar ist die vom Autor intendierte individuelle Erinnerungsreproduktion. Denn erst durch diese sinkt der Rezipient in die Welt der Erinnerung, taucht ein in Landschaften, Gerüche, Melodien. Er schmeckt und riecht, er fühlt und spürt.

Der glückliche Leser sieht und empfindet. Die Wand aus Buchstaben ist verschwunden, Bilder, Szenen erscheinen, Gefühle wallen auf, ergreifen, verwirren, verbinden sich mit persönlichen Erlebnissen: heimisch werden in einem Text. Eine Vorstellungswelt entsteht, mal groß und welterschaffend, dann wieder winzig und nadelspitzengroß.

Aktives Lesen ist Eintauchen in fremde Bilder, Lektüre wird zum synästhetischen Erinnern, ein Berühren und Anklingen aller Sinne, wie uns Proust »In Swanns Welt« eindringlich vor Augen führt: Seine Mutter überredet ihn, der an einem Wintertage durchgefroren heimkehrt, zu einem Schluck Tee und einem Stück Madeleine. Kaum schmeckt er die sanfte Mischung aus Tee und Gebäck, überströmen ihn Empfindungen längst verschollen geglaubter Kindheitstage. Proust besinnt sich nicht nur, so wie man an die Weihnachtstage vergangener Jahre zurückdenkt, er wird zur Erinnerung.