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Leseprobe aus „”

Dorf-Tratsch

Dorf-Tratsch

Es waren merkwürdige Dinge geschehen, Dinge, die die bürgerliche Ordnung eines Dorfes an der Ostküste Deutschlands durcheinander brachten und die Brötchen des kleinen Bäckerladens zu einer begehrten Ware werden ließen.
Eines frühen Morgens berichteten die ersten Kunden, dass das Firmenschild des bekannten Restaurators von nebenan übersprüht worden war. Es blieb nicht mehr zu sehen als die reine schwarze Fläche. Schon Tage zuvor erschien die Firma wie unbelebt, ohne irgendwelche erkläbare Hinweise. Vielleicht blieb sie geschlossen, weil sie verkauft werden sollte? Der Bäckermeister wurde befragt, ob er Näheres wüsste. Der verneinte und konnte nur berichten, dass die zwei Gesellen der Firma nach tagelangen, vergeblichen Kontaktversuchen zu ihrem Chef, inzwischen die Arbeit niedergelegt hatten. Privat war Hartwig Schwertträger auch nicht zu erreichen. Er sei in den letzten Tagen, während derer man ihn noch erleben konnte, sehr merkwürdig gewesen, wie geistig abwesend. Ein Kunde sorgte sich, dass der begonnene Auftrag eines antiken Reliefs, welches die Hierarchie der Engel zeigte, vom Restaurator dann vielleicht nicht weitergeführt werden könne. Herr Ruhl war so erleichtert, dass der geschätzte Meister sich zu dieser schwierigen Aufgabe bereit erklärt hatte; sollte sich doch die kleine Kirchengemeinde bald an dieser kostbaren Erneuerung erfreuen können! Er hätte keinen besseren gewusst als ihn. Und nun diese Ungewissheit!
Im Bäckerladen konnte Herr Ruhl nach und nach einige mögliche Erklärungen sammeln. Doch welche von diesen war wohl die zutreffende? Ein Nachbar, Herr Wieck, berichtete, dass er nachts noch einmal den Hund nach draußen gelassen habe. Zu dieser einsamen Stunde habe er einen dunkel gekleideten Mann die Straße entlang gehen gesehen. Er war recht groß. Vielleicht war es Herr Schwertträger selbst, der auf eine ungewöhnliche Weise kundtun wollte, dass er seine Firma aufgegeben hatte, so könne man dies jetzt nachträglich erklären. Vor sieben Jahren hatte der alte Restaurator, Herr Wieck, um in Ruhestand gehen zu können, Herrn Schwertträger das Firmengebäude verpachtet. Die Tochter des Rentners war damals als Angestellte der Firma ihres Vaters von Herrn Schwertträger als Gesellin übernommen worden, bis die Kündigung ihr quittierte, dass ihre Fähigkeiten nicht ausreichten, um den Anforderungen der neuen Firmenführung gerecht zu werden. Seither putzte sie für Herrn Schwertträger einmal im Quartal die Fenster der Werkstatt. Aber dieses erzählte der Herr Wieck niemandem. Jedenfalls wusste auch seine Tochter nichts Konkretes zu berichten, was diese seltsame Begebenheit hätte erklären können.
„Es war doch solch ein Sturm in dieser letzten Nacht“, wandte ein anderer Kunde ein. „Nord-Ostwind, von der See her. Er muss mindestens fünf Sprühflaschen Farbe verbraucht haben, um das Firmenschild durch die Schwärze vollständig abdecken zu können, und: was soll das?“
„Nun ja“, meinte der alte Herr Wieck, „jedenfalls kann es nur in dieser letzten Nacht geschehen sein.“
Jeden Tag kamen ein paar Informationen oder besser gesagt „Mutmaßungen“ zu den vorherigen hinzu. „Vielleicht haben seine Angehörigen eine Vermisstenanzeige aufgegeben", meinte eine elegant gekleidete Dame, während die Morgenbohnen durch die Kaffeemühle ratterten. Immerhin hatte sie mit dem Restaurator schon manchen Mokka getrunken bei den Anlässen, wenn er ab und an einige Zeitspuren an ihren antiken Möbeln überarbeite. Sie hatte sich gut mit ihm verstanden. Wenn er zu ihr kam, fühlte sie sich sogleich um dreißig Jahre jünger. Aber davon erzählte sie niemandem.
Sie wusste zu berichten, dass seine Mutter nur wenige Kilometer entfernt in der nächsten Ortschaft wohnte. Das hatte sie von ihrer Friseuse gehört, die ab und an einiges von ihren Kunden aus dem Umfeld des Restaurators erfuhr. Familie müsse er wohl haben. Eine schwäbische Frau lebe seit zwei Jahren bei ihm. Als sie zu ihm zog, hatte sie vier Kinder aus ihrer früheren Ehe mitgebracht und sei wohl bald auch wieder in Hoffnung gewesen vom Restaurator. Doch sie habe das erste Kind von ihm verloren. Die Friseuse hatte ihr auch erzählt, dass die Schwäbin, deren Namen sie nicht kannte, wohl gerade verreist sei. Sie lebte mit dem zweiten, inzwischen gesund geborenen Kind von Herrn Schwertträger und mit den nun fünf Kindern, in einem ziemlichen Spannungsverhältnis zu ihm. Genaueres wusste sie darüber allerdings nicht zu berichten.
Mit den Tagen des Rätselratens wurde den Bewohnern des Dorfes mehr und mehr bewusst, dass eigentlich niemand das private Leben dieses Mannes wirklich kannte, obwohl einige ihn beinahe täglich gesehen hatten und so manche Anekdote über ihn zu berichten wussten. Bekanntermaßen nahm er auch gerne Tischlerarbeiten an. Bei einem Lehrer der benachbarten Schule habe Herr Schwertträger die frisch eingebauten Fenster gewaltsam wieder herausgerissen, nachdem er feststellen musste, dass sein Kunde die Arbeit nicht fristgerecht bezahlen konnte. Aber das erzählte der Lehrer niemandem. Dennoch wusste es jeder im Dorf. Die Töpferin hatte es weitererzählt, aber erst, nachdem sie sich selbst über Herrn Schwertträger geärgert hatte, weil er nicht willens war, eine reklamierte Arbeit zu ihrer Zufriedenheit zu Ende zu bringen. Dabei hatte sie ihn mehrfach empfohlen. Auch von ihren Bekannten erhielt sie über die Art der Ausführung seiner Aufträge merkwürdige Rückmeldungen. Anscheinend war er so genial im Handwerk wie auch unberechenbar in Bezug auf seine soziale Natur.
Ob er selbst verschuldet sei? Nein, sicherlich nicht über solche Maßen, dass dies sein Verschwinden erklären könnte. Er soll wohl manches Mal geklagt haben, dass die Firma besser laufen könne, aber eigentlich mache er ja einen guten Umsatz. Der Norden sei im Süden besser angesehen, ließ er in einer Wurfpost verlauten. Dies war das von ihm gezogene Fazit, nachdem er begonnen hatte, in Hamburg mit einigen Aufträgen seinen Aktionsradius zu erweitern, angeblich, weil im Dorf selbst die Auftragslage nicht genügend hergab; aus welchen Gründen auch immer.

Vor fünf Jahren erst hatte er sich ein Grundstück gekauft und das alte, beinahe abrissreife Reetdach-Haus in kurzer Zeit auf geniale Weise saniert. Seit der Fertigstellung wurde es von manchen „Das Schwanenhaus“ genannt. Ein weißer Rauputz überdeckte nun die vormals roten Klinkersteine. Von weither wurde es durch eine mächtige, auf einer kleinen Anhöhe stehenden, alten Kastanie in der Landschaft hervorgehoben. Herr Schwertträger hatte sich kürzlich zu seinem Alfa Rome0 Cabrio sogar noch einen roten Saab 900 Turbo 16 zugelegt. Das tut keiner, dem die Gläubiger auf die Bettwäsche rücken.
Irgendetwas musste er allerdings auf dem Konto haben. Merkwürdige Beziehungsgeschichten soll er gehabt haben und merkwürdige Ansichten. Was wusste man schon? Doch: wenn niemand jemanden kennt, dann ist alles denkbar ...