Leseprobe aus „Der Kalender des Zeltmachers”
Leseprobe aus Kapitel 5
Macht
Daher ist alles tapfer zu ertragen, weil nichts, wie wir glauben, aus Zufall geschieht, sondern alles vorherbestimmt.Lucius Annaeus Seneca, Über die Vorsehung, 5, 7
Rom, Frühjahr 49
Ihr Gesicht hatte die mädchenhafte Weichheit verloren, das Scheue, sanft Neugierige, das er geliebt hatte. Wenig erinnerte noch an die Züge ihrer Schwester Lesbia, viel dagegen an ihre Mutter: die wie mit dem Messer geschnittenen Augenlinien, die kräftigen Brauen, mit Aschefarben aufgetuscht, eine starke und scharfe Nase, dünne, blutlose Lippen. Ähnlich auch die Frisur, eine dichte und hohe Haube aus hellbraunen, sich kräuselnden Locken. Agrippina rede oft von ihrer Mutter, erzählte man. Schreibe Episoden ihres Lebens auf oder diktiere sie einem griechischen Sklaven. Mitunter verwende sie ihre Aussprüche und ahme gar den Tonfall nach. Andere wieder wollten Gemeinsames mit ihrem blutigen Bruder entdeckt haben. Ihr Blick, hieß es dann, sei wie das Ducken eines Leoparden vor dem Sprung. Auch Seneca glaubte, eine ruhelose, beutesuchende Wildheit darin zu erkennen. Doch wie um alles Männliche an ihrer Erscheinung aufzulösen, hatte sie sich in leichte, spielerisch fallende Seide gekleidet, die eng um Hals und Brust lag, ohne Arme und Beine zu bedecken. Wie Caligula, dachte er, als sie vor ihm saß, wie Caligula hat sie Blut und Seele beider Geschlechter.
Die Stadt war in den letzten Stunden voller Gerüchte gewesen. Die Hofschranze Narcissus, fett geworden wie ein Verschnittener, hatte ihm morgens vor der Kurie allerhand zierliche Warnungen zugeraunt. Senecas neue Gönnerin Agrippina, tat er sich wichtig, während die frühe Sonne auf seinem Stirnschweiß glänzte, treibe längst mit dem Kopf unter Wasser im Tiber, nur habe sich dieser Umstand zu ihr noch nicht herumgesprochen. Nach dem Tod der Ehebrecherin Messalina halte sie sich für die neue Favoritin des Kaisers, obwohl sie ja immerhin die leibliche Brudertochter sei und wo doch jeder wisse, dass Claudius, nicht eben für ein frauenloses Leben geboren, ein weiteres Mal Aelia Patina heiraten werde, die Mutter seiner Tochter Antonia. Im übrigen dürfe Seneca, der nach seinem langen Fortsein ja nun sozusagen ein Fremder in Rom sei, in dieser Sache weder auf den tüchtigen Palastwächter Pallas, der bisweilen einen unglücklichen Hang zu verglühenden Sternen pflege und, da verrate er ihm ein kleines Geheimnis, seitdem er im Hofkreis die hübsche Lüge angestimmt habe, in Wahrheit ein arkadischer Prinz zu sein, dort mittlerweile als lächerliche Figur gelte, noch auf den sonst so schätzenswerten, weil klugen Callistus hören, der es mit der von Caligula verstoßenen Lollia Paulina halte und in ihr die künftige Kaisergattin sehe. Die habe eigenen Ehrgeiz und schenke das Ohr ein wenig zu bereitwillig düsteren Wahrsagern. Aus leidenschaftlicher Sympathie teile er ihm das alles mit, als freundschaftlichen Rat zur Vorsicht. Sicher sei er sich, dass Seneca daraus die richtigen Schlüsse ziehen werde. Als Seefahrer wisse er ja, dass große Schiffe im Untergang tödliche Strudel rissen.
Der geschmähte Marcus Antonius Pallas hingegen, ein geradegewachsener Mann mit gefährlich spitzen Ohren, geschmeidiger Zunge und immer lichtem Verstand, Vermögensverwalter des Kaisers, hatte ihn am späteren Vormittag in einer Sänfte mit zwanzig Trägern und mehreren Ausrufern aufgesucht, und das auf klaren Befehl Agrippinas, um ihn über den Stand der Dinge bei Hofe wahrheitsgemäß ins Bild zu setzen. Längst höre Claudius in allen Angelegenheiten des Lebens, auch den politischen, kaum noch auf den geschwätzigen und raffgierigen Narcissus, eher auf den ehrgeizigen Vitellius, vor allen anderen aber auf seine Nichte Agrippina. Dass der Senat Seneca aus dem korsischen Exil zurückgerufen habe, verdanke er ihr. Sieben Jahre seines Lebens habe die niederträchtige Messalina, ewig verflucht sei ihr Andenken, ihm gestohlen. Agrippina, aus alter Anhänglichkeit und Bewunderung, könne ihm nicht die Jugend wiedergeben, aber doch für eine leuchtende Gegenwart sorgen. Ungerechtigkeit beleidige sie, weshalb sie alles daransetze, das Unrecht gutzumachen, welches die nichtswürdige Messalina, die Würmer mögen ihren schändlichen Namen zerfressen wie den lasterhaften Leib!, ihrer Schwester Lesbia angetan habe, als man sie fälschlich des Ehebruchs mit ihm, Seneca, bezichtigte. Man wisse ja, dass verderbte Seelen in anderen immer die eigene Schlechtigkeit argwöhnten. So sei das üble Gerücht ein Spiegelbild des Verleumders! Ehrliche Menschen aber verlangten nach Gerechtigkeit, und deshalb rufe Agrippina nun ihren alten Freund Seneca an ihre Seite, damit er seine durch Lüge und Intrige unterbrochene Laufbahn zum Wohle der Stadt und des Erdkreises fortsetzen könne.
Ein Ruf, dem er sich nicht entziehen konnte. So saß er ihr nun gegenüber, der nach dem Tode Messalinas berüchtigtsten Frau Roms, betrachtete das helle Atrium ihres Palastes, trank stark gewässerten Wein und ertrug die kräftig gewürzte Luft, die ihm hochgewachsene Sklavinnen mit Palmwedeln zufächelten.
Größer als jedes Wort, sagte sie, sei ihre Freude, ihren alten Freund Lucius Annaeus bei so guter Gesundheit wieder in seinem Rom zu sehen. Und ihre Stimme klang, als reibe Seide an scharfen Fingernägeln. Und welch ein Glück für die Stadt, denn was sei Athen ohne Sokrates! Er aber sei nicht nur Sokrates, sondern auch Perikles.
Ihre sorgsame Förmlichkeit überraschte ihn. So geziert müsse sie nicht mit ihm reden, wollte er antworten, er sei kein anderer geworden in all den bösen Jahren und betrachte alte Freunde immer noch als alte Freunde. Wozu also solch senatorisches Getue! Doch als er ihren angestrengt kühlen Blick sah, hielt er diese Worte plötzlich für leichtfertig. Offenheit vor dieser Frau war nicht möglich, vielleicht niemals mehr. Wie immer, wenn er statt ehrlich zu sein, sich steif und bescheiden gab, kam ihm seine Stimme tiefer vor als gewöhnlich.
Ein schlichter Redner sei er, der sich für die Ehre bedanke, dass Kaiser und Senat ihn zum Prätor bestellt hätten. Ein respektables Amt, das er gewissenhaft auszuüben verspreche. Dankbar sei er der Vorsehung, dieser launischen Allkraft, die oft Böses zu planen scheine, in Wahrheit aber doch immer zum Guten ausschlage.
ff